Marie Luise von Halem
Landesgeschäftsführerin
Bündnis 90/Die Grünen Brandenburg
Jägerstraße 18
14467 Potsdam
Sehr geehrte Frau von Halem!
Suzanne hat mir Ihre Antwort weiter geleitet und ich erlaube mir, Sie daraufhin direkt anzuschreiben.
Als erstes möchte ich mich für den Satz “Wir Grünen unterstützen die Petition im Ausschuss” bedanken und mich gleichzeitig mit meinen wohl fundamentierten Bedenken an Sie wenden.
Die Anzeichen, dass die Angelegenheit misshandelter Heimkinder einem quick-fix zum Opfer fallen wird, werden immer deutlicher.
Wie in meinem offenen Brief an Frau Rupprecht erwähnt, war die Anhörung am 11. Dezember 2006 manipuliert.
Als Beauftragte, die Petition ehemaliger Heimkinder zu untersuchen, hat Frau Rupprecht nur die 9 ehemaligen Heimkinder eingeladen, die Herr Schiltsky vom VeH (Verein ehemaliger Heimkinder) vorgeschlagen hat. Trotz Anfragen wurden Betroffene, die trotz ihrer Traumata die Fakten der Vergehen ins volle Licht hätten rücken können, ausgeschlossen. Selbst der Anwalt, der die Interessen misshandelter Heimkinder vertritt, durfte trotz vorliegender Vollmacht nicht am 11. Dezember anwesend sein. Auch wurden fachkompetente Leute wie Herr Dierk Schaefer, Frau Dr. Spranger, die sich durch ihre psychologische Arbeit mit Kriegskindern auszeichnete, nicht aufgefordert, für die Heimkinder zu sprechen. Selbst Herrn Lehning vom LWV Hessen, der viele Ermittlungen in dieser Angelegenheit führte, konnte seine Erkenntnisse nicht offen legen.
Nun sollen die verschiedenen Ministerien und die Mitglieder des Petitionsausschusses nach dem Auftritt von nur neun erzählten Geschichten über die restlichen
500 000 Misshandelten eine objektive Stellungnahme vorlegen. Die Frage liegt auf der Hand: Sind die Beauftragten wirklich über das volle Ausmaß dieser Menschenrechtsverletzungen informiert?
Für mich ist es unvorstellbar, dass es aus den 9 vorgetragenen Geschichten zu einem Ergebnis kommen kann, das die Bedürfnisse der restlichen 500 000 Misshandelten berücksichtigt. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass die meisten Bundesländer an dem Thema misshandelter Heimkinder überhaupt nicht interessiert sind. Vor allem schweigt verkrampft das Land Bayern in der Hoffung, dass das Thema sich in Luft auflöst oder die Betroffenen es müde werden, sich zu wehren.
Meine Ermittlungen ergaben berechtigte Zweifel an der Erfüllung der Bedürfnisse von Betroffenen, da immer wieder das Irland – Modell als Leitlinie oder sogar als Lösung angepriesen wird. Tatsächlich jedoch ist dieses Modell, das “Irland’s Redress Board”, geprägt von rechtswidrigen Taktiken wie beispielsweise der Verpflichtung der Misshandelten, Schweigeverträge zu unterschreiben. Dies ist seit zwei Jahren bekannt, setzte neue Protestwellen in Irland in Gang und lässt es als ein auf Deutschland übertragbares Aufklärungsmodell in einem sehr fragwürdigen Licht erscheinen.
Frau Rupprecht verhinderte durch ihre selektierte Wahl, welche Gründe auch immer sie dafür hatte, nicht nur die rechtliche Auslegung der begangenen Menschenrechtsverletzungen, indem sie Rechtsanwalt Wilmans keine Chance gab, für die restlichen Kindheitsopfer zu sprechen, sie verhinderte auch, dass die Ministerein über die psychischen Langzeiteffekte von Misshandlungen erfuhren. Frau Dr. Spranger, nur als Beispiel, hätte dies unmissverständlich und unparteiisch dokumentieren können.
Nach dem jetzigen Stand der Dinge frage ich mich, war der Petitionsausschuss wirklich an den Schicksalen dieser Misshandelten interessiert, oder hebt die Politik den Deckel dieses Schandtopfes nur ein wenig, um etwas Luft abzulassen um die Antragsteller zu beruhigen?
Ich darf Ihnen versichern, dass die Aussagen der neun Eingeladenen keine Repräsentation für jene sind, die heute unter PTBS leiden, die am Rande der Gesellschaft und von weniger als dem Existenzminimum leben müssen. Es ist nicht möglich, das volle Ausmaß sozialer Zerstörung und die daraus folgenden Konsequenzen in ein paar Stunden zu erfassen oder darzustellen, hierzu bräuchten sogar Psycho- und Sozialhistoriker Jahre. Diese Tatsache erhebt noch einmal die Frage: Was wissen die Ministerien wirklich von den Bedürfnissen der Betroffenen? Wo liegen deren Kompetenzen, solche Fälle zu beurteilen? Kennen sie das volle Ausmaß der begangenen Misshandlungen samt aller lebenslänglichen Konsequenzen?
Wurden dem Ausschuss die eingesandten Geschichten vorgelegt?
Beispiel: Mein Leben! von Emil K.
oder weitere Geschichten, die bei EMaK publiziert sind.
Dass diese Anhörung überhaupt stattgefunden hat erscheint für Nicht- Involvierte erst mal als Forschritt. Was aber aus den Reihen der SPD Fraktion kommt deutet auf eine “Fall-Beerdigung” hin und bestätigt u. a. meinen Verdacht.
Hier ein paar Emailausschnitte von einem sehr Bemühten aus der SPD, dem die Anwesenheit bei der Anhörung nicht genehmigt wurde und Folgendes auf meine Frage “Wen interessiert das Thema misshandelte Heimkinder wirklich?” antwortete:
Vom 12/11/
Mit Frau Rupprecht habe ich einmal telefoniert. Sie machte einen recht engagierten Eindruck. Allerdings, dass sie mir die Teilnahme an der Anhörung nicht ermöglichen kann (will?), sehe ich als schlechtes Zeichen…
Ansonsten, wie Sie sagen, ich sprach auch einen ev. Pfarrer aus der SPD-Fraktion an. Kein Interesse… usw.
Vom 12/13
Der Einzige, den ich kenne und der wirklich interessiert und engagiert ist, ist Dierk Schäfer,… (Ev. Akademie Bad Boll)
Den zuständigen Oberkirchenrat hier in Berlin habe ich das Buch geschenkt und um Mithilfe gebeten. Seitdem geht er mir aus dem Wege…
An den zuständigen Generalsuperintendenten des Bereiches Potsdam habe ich das Anliegen heran getragen. Er hat es “zuständigkeitshalber” an die Vors. der Diakonie weiter gereicht. Keine Reaktion…
Dem genannten Pfarrer aus Potsdam im Bundestag habe ich das Anliegen vorgetragen. Er hat nur an Frau Ruprecht verwiesen…
In der Regionalpresse hier war mein Beitrag. Keine einzige Reaktion…
Usw.
Ich bin da auch nicht sehr hoffnungsvoll. Natürlich möchten die Kirchen weder zahlen, noch sich mit ihrem Versagen auseinandersetzen. Das ist ja nichts Neues…
Meines Erachtens sind folgende Schritte, die zu einer ALLEN Betroffenen gerechtwerdenden Aufklärungsarbeit führen, vonnöten
– Die Bildung einer neutralen Untersuchungskommission, welche die Geschichten der Betroffenen und der daraus resultierenden Menschenrechtsverletzungen in Heimen untersucht.
– Die Formierung eines Ausschusses unabhängiger Psychologen, Sozial- Historikern und auf Menschenrechtsverletzungen spezialisierter Rechtsanwälte, welche die Arbeit der Untersuchungskommission begleitet und prüft
– Das Einrichten einer Webseite, um Betroffenen die Möglichkeit zu geben, sich über Fortschritte zu informieren und gegebenenfalls auch ein Mitspracherecht einzuräumen.
Es ist vielleicht unvorstellbar, aber viele Betroffenen warten seit über 40 Jahren auf politische und rechtliche Unterstützung in dieser Angelegenheit, zu viele Versuche verliefen schon im Sande. Vom Erdboden verschwundene Heimakten sind nur ein Beispiel vieler enigmatischer Vorfälle, die ehemaligen Heimkindern vielfach und vielerorts widerfahren. Aus diesem Grund ist unerlässlich, sie mit größtmöglichster Transparenz in die Untersuchungen mit einzubeziehen, anstatt sie wie bisher mit halbherzigen Versprechen und Bemühungen abzuspeisen. Demokratie und Aufklärung sind anstrengend, aber das Leben vieler Betroffener seit Jahrzehnten unzumutbar. Unser Entschluss, diesen Weg auch über alle Instanzen zu Ende zu gehen, steht fest.
Ich freue mich, dass Suzanne, die Sie sehr schätzt, Ihnen von unserem Anliegen erzählt hat und bedauere zugleich, mit Ihnen nicht aus einem erfreulicheren Anlass in Kontakt treten zu können.
Ich würde mich sehr freuen, mit Unterstützung möglichst vieler Menschen, Licht in dieses dunkle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte bringen zu können, um den Betroffenen zu einer längst überfälligen Anerkennung und Entschädigung zu verhelfen.
Ich bedanke mich im Namen vieler Misshandelter für Ihre eventuelle Unterstützung.
Mit freundlichem Gruß,
Sieglinde Alexander
Erwachsene Misshandelt als Kinder
—————————
Sehr geehrte Frau Alexander!
Haben Sie vielen Dank für Ihre umfangreichen Informationen.
Meine Möglichkeiten der direkten Einflussnahme sind beschränkt, es geht hier um eine Befassung auf Bundesebene, wobei der Landesverband Brandenburg keine Rolle spielt. Deshalb möchte ich Sie bitten, Ihre Sacheinwände an unsere Bundestagsabgeordnete Cornelia Behm zu richten (unter cornelia.behm@bundestag.de). Mit ihrem Mitarbeiter habe ich bereits gesprochen.
Erlauben Sie mir doch noch eine Bemerkung: Wie Sie selbst schreiben, bräuchten selbst Experten Jahre, um das volle Ausmaß des Leides zu erfassen, das den Betroffenen angetan wurde. Es liegt mir fern, das in Abrede stellen zu wollen. Allerdings weiß ich aus meiner eigenen Kenntnis politischer Abläufe, dass Befassungen strukturiert werden müssen und Aussagen gebündelt, wenn sie überhaupt eine Chance in der Fülle der zu behandelnden Themen haben sollen. Zu schließen, dass eine Anhörung, an der ‘nur’ neun Betroffene gehört wurden, deshalb ‘manipuliert’ sei, halte ich für gewagt. Ich habe Anhörungen erlebt, an denen überhaupt keine Betroffenen auftraten, sondern nur VertreterInnen. Über die Frage, auf welche Art und Weise diese Bündelung im konkreten Fall statt findet, lässt sich sicher immer trefflich streiten. Sie allerdings grundsätzlich zu kritisieren, hilft der Sache nicht weiter.
Ich denke, das Thema ist bei Cornelia Behm gut aufgehoben.
Ihnen und dem Anliegen alles Gute und viel Erfolg!
Marie Luise von Halem
Landesgeschäftsführerin Bündnis 90/Die Grünen Brandenburg
Jägerstraße 18
14467 Potsdam
T 0331/97931-11, F -19
lv.brandenburg@gruene.de
www.gruene-brandenburg.de
————————————
Marie Luise von Halem
Landesgeschäftsführerin Bündnis 90/Die Grünen Brandenburg
Jägerstraße 18
14467 Potsdam
18.01.2007
Sehr geehrte Frau von Halem,
Ich bedanke mich für Ihre Empfehlung an Frau Cornelia Behm, die ich gerne wahrnehme.
Ihrer Bemerkung entnehme ich, dass Sie dem bürokratischen Ablauf im Bundestag mehr Bedeutung beimessen als den Verstößen gegen die Menschenrechte in den letzen 55 Jahren.
Mein Einwand dazu ist: hätte die Exekutive des Deutschen Staates diese Vergehen indirekt, durch bewusste und vorsätzliche Blindheit nicht unterstützt, gäbe es keine Kindheitsopfer, die sich nach Jahren erlauben, ihr Recht einzufordern.
Hätte es keine Abwertung oder Klassifizierung der Menschen/Kinder gegeben, sondern hätte der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ für alle gegolten, wäre dieses Thema nie in einem Petitionsausschuss gelandet.
Es ist bedauerlich, dass Sie mit Zurückhaltung auf der Seite der 500 000 Misshandelten stehen, deren Leben durch Kindheitstraumata für immer zerstört ist.
Zum Schluss möchte ich Ihnen diese Frage stellen: Wie würden Sie reagieren, wenn Sie körperlich, sexuell, und psychisch in Ihrer Kindheit misshandelt worden wären, keine Chance zu einer Ausbildung erhielten und obendrein noch als Kindersklave in kirchlichen Heimen für Jahre hätten unentgeltlich arbeiten müssen?
Mit freundlichen Grüßen,
Sieglinde Alexander