Übersetzung von Reinhold W. Rausch
Ich will meinen Appell an Sie von einem menschlich gefühlten Standpunkt aus formulieren und berichte daher zuerst über meine persönlichen Erfahrungen als Klientin.
Nachdem ich 1993 die in meiner Kindheit erlittenen Kindesmisshandlung beschrieben hatte litt ich unter Depressionen. Das ging so weit, dass ich lieber sterben wollte als dem Schmerz und dem Entsetzen meiner Kindheitserinnerungen und ihrem Wiedererleben ausgeliefert zu sein. Ich wusste, ich brauche Hilfe und so machte ich einen Termin bei Kassen- Therapeuten. Die Warteliste für einen Gesprächstermin war damals 12 Wochen. Ich war völlig deprimiert und mein Durchsetzungsvermögen war von Angstzuständen derart lahmgelegt, dass mir keine andere Wahl blieb, als mich mit der Situation, wie sie war, abzufinden. Und zusätzlich zu dem, dass ich mich hilflos fühlte, beschuldigte und schalt ich mich auch noch dafür, überhaupt Hilfe zu brauchen. Wie schon als Kind ergab ich mich der Macht übermächtiger Autoritäten, von Experten, von denen ich doch annehmen konnte, dass sie wissen, was sie tun.
In diesen 12 Wochen des Wartens vollzog sich ein tiefgreifender heilender Wandel in meinem Gehirn. Trotz meines depressiven Gesamtzustands empfand ich damals zum ersten Mal so etwas wie ein heilsames Auftauen. Irgendwie rührte das mit dem Aufschreiben verbundene Wiedererleben der Traumatisierung an meiner Depression und brachte einen Heilungsprozess in Gang. Ich konnte fühlen, wie eingefrorene und weggesperrte Bilder von traumatischen Erinnerungen begannen aufzutauen und ins Bewusstsein zu kommen. Die Wucht der vor dreißig Jahren schockgefrosteten Traumata begann an Gewalt zu verlieren um statt dessen einen unabgeschlossenen Prozess zuende zu bringen. Endlich fühlte ich, wie lose Enden ( Neurone ) in meinem Gehirn dabei waren, ihre Verbindungen zu suchen. Jedes Ereignis, an das ich, versunken in meinen Kindheitserinnerungen, rührte, führte mich in ein Flashback. Ich begann zu verstehen, warum ich mein Leben lang Angst gehabt hatte. Dieses blitzlichtartige Wiedererleben machte es möglich, viele der traumatischen Erlebnisse der Vergangenheit zu verarbeiten und hinter mir zu lassen. Ich begann zuerst mit einem kognitiven Einstieg, der mich in den Bereich des Ursprungs und, auf einem Trampelpfad des Gefühls, schließlich an die Quelle meines über vierzig Jahre alten Traumas und meiner Angst führte. Danach war die eingeprägte Angst nicht mehr vernichtend; sie hatte ihre Kraft verloren, weil der entsetzliche Schmerz und die Angst, die mit der Erinnerung verbunden waren, zuerst gefühlt – und dann verschwunden waren. Ich hatte aufgehört, ständig weiter die kindlich hilflosen Empfindungen zu fühlen ( eines Kindes, das keine Worte besaß, sie aus zu drücken ). Die losen Enden hatten endlich Verbindung zu einer funktionierenden linken Hemisphäre aufgenommen und ich konnte das Gefühl jetzt mit den Worten einer Erwachsenen ausdrücken, was ich als Kind nicht konnte. Meine Hoffnung, in diesem Heilungsprozess Unterstützung zu finden, war entsprechend beträchtlich.
Als ich dann endlich meinen Therapeuten das erste mal sah, wurde dieser Heilungsprozess gewaltsam unterbrochen. Ich wurde an eine Psychiaterin überwiesen und was dabei raus kam war Wellbutrin und Verhaltenstherapie.
Ich brachte meine Bedürfnisse zum Ausdruck, nämlich dass ich mit der Regression und mit dem Fühlen weitermachen will, aber ich wurde nicht gehört. Nach etwa 10 Sitzungen konnte ich dann ihre Hilflosigkeit angesichts dessen fühlen, dass ich nicht bereit war, ihre Theorie der Schmerz- „Managements“, also der Unterdrückung, zu schlucken. Ich wollte heilen, wie ich ihr sagte, nicht erneut unterdrücken, aber sie verstand gar nichts. Nach der zwanzigsten Sitzung streckte sie hilflos ihre Hände in die Luft und fragte mich: “Welche Theorie passt denn nur auf Sie?“ „Ich brauch’ gar keine Theorie,“ sagte ich ihr, „ich will nur, dass sie mir helfen zu heilen, indem sie meine Fragen zu all den Gefühlen, die ich habe, ohne sie zu verstehen, beantworten“. Worauf sie meinte, ich würde, da nicht psychologisch ausgebildet wie sie, ihre Erklärungen sowieso nicht verstehen. Anstatt Hilfe zu bekommen wurde ich also wiederum abgewürgt und beleidigt. Nicht lange danach schaute ich mich nach einer anderen Therapeutin um. In der ersten Sitzung mit ihr teilte ich ihr meinen Wunsch mit, Antworten zu finden und in meinem Heilungsprozess Unterstützung zu bekommen. Ich legte ihr dar, dass es für mich wichtig ist, die Verbindungen zu meinen Panikattacken und zu den andauernden Angstgefühlen zu finden. Gelangweilt ließ sie mich wissen: „Sie brauchen nicht zu wissen wie man versteht“. Daraufhin, wieder mit dem Gefühl völliger Hilflosigkeit, verließ ich auch sie und machte weiter mit Wellbutrin.
Nach und nach machten sich die Nebenwirkungen der Antidepressiva bemerkbar und ich erwähnte meine Gewichtszunahme und andere neue Symptome, wie Muschel- und Schokoladen- Allergie, Schlaflosigkeit und Atemnot gegenüber meinem Psychiater. Er fertigte mich knapp damit ab, dass die Gewichtszunahme von der Menopause käme und ging auf die anderen von mir erwähnten Nebenwirkungen gar nicht erst ein. Nach 4 Jahren Wellbutrin hatte ich 65 Pfund zugenommen obwohl ich weniger denn je zu mir nahm.
Ich wechselte 1998 wieder den Psychiater und der Neue setzte mich dann auf Effexor.
Zusätzlich schöpfte ich 1999 neue Hoffnung als ich das erste Mal von EMDR hörte und mich also auf Therapiesitzungen mit einem EMDR- Spezialisten einließ. Nach etlichen privat bezahlten Sitzungen gelang es mir, einen anderen, kassenbezahlten EMDR- Therapeuten zu finden und wechselte auf finanziellen Gründen zu diesem.
Nach anderthalb Jahren stellte ich zu meiner Enttäuschung fest, dass EMDR, was die Heilung meiner Angst und Panikattacken angeht, wirkungslos war. Es half einzig zur momentane Unterdrückung. Die Symptome kamen, kurz nachdem ich die EMDR Therapie beendet hatte, wieder.
Im Jahr 2000 dann nahm ich alle mir noch zur Verfügung stehenden Kräfte zusammen, beendete alle meine sogenannten „Therapien“ und hörte auf, die Antidepressiva zu nehmen. Nachdem ich drei Monate lang unter den Effexor- Entzugserscheinungen gelitten hatte, hoben sich daraufhin langsam die Schleier in meinem benebelten Gehirn und ich fing an, wieder als fühlender Mensch zu leben. Was mich am meisten ernüchterte war die Feststellung, dass, nach zusammen 7 Jahren Einnahme von Antidepressiva, sich rein gar nichts geändert hatte. Alle Symptome, die ich am Anfang hatte, plagten mich noch immer. Die Panikattacken und die Traumata meiner Kindheit waren noch immer genau so vorhanden wie 1993, als ich anfing, diese Antidepressiva zu nehmen. Alles, was sie bewirkt hatten war, dass ich, ohne die Depressionen losgeworden zu sein, sieben Jahre lang als wandelnde Zombie herumgelaufen war.
Der einzig wirkliche Effekt der Antidepressiva war ein Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses, 65 Pfunde extra und neuerworbene Allergien. Die Auswirkungen meiner traumatischen Kindheit aber waren immer noch sehr spürbar vorhanden und beeinträchtigten meine Lebensqualität dramatisch.
Warum um alles in der Welt, fragte ich meinen Psychiater, musste ich all diese gefährlichen Drogen schlucken? Stille war die Antwort und einen guten Rat, wie ich meine seelischen Qualen los werden könnte, hatte er erst recht keinen.
Wie ich nur all zu spät herausfand, hatte Wellbutrin alle Vorgänge in meinem Körper verlangsamt, inklusive die Funktion der Schilddrüsen. Abgesehen von kurzen Unterbrechungen war mein Cortisol- Spiegel bei 4,8. Eines meiner Symptome, die Atemnot, verschwand zwar, aber geblieben sind mir die Muschel- und die Schokoladen- Allergie bis heute.
Die Spitze des Eisbergs, 60 Stunden Gesprächstherapie ( mit vier verschiedenen Therapeuten ) waren vergeudete Jahre und hatten nichts anderes bewirkt als enttäuschte Hoffnungen und waren nicht mehr gewesen als Schmerz- Verwaltung, mit anderen Worten, erneutes Unterdrücken, Verdängen und Bevormunden des Bewusstseins des seelischen Leidens. Ich wollte aber meinen Schmerz nicht „managen“, ich wollte nichts weniger als die Wunden gravierenden Missbrauchs in der Kindheit auf Dauer zu heilen. Und natürlich konnte das weder Wellbutrin noch Gesprächstherapie. Wie jeder Patient war ich abhängig von den Professionellen der Zunft und musste ihnen vertrauen. Aber meine Sorge über die Gewichtszunahme und die immer noch verbliebenen Angstattacken wurde glatt überhört. Was kann ein Patient, der unter ständiger Depression, Angst und Schrecken leidet, denn auch anderes tun als denen zu glauben, denen zu vertrauen, deren Aufgabe es ist, zu helfen? Nach drei Monaten Effexor hatte ich einen ganz erheblichen Anteil meines Kurzzeitgedächtnisses eingebüßt.
Als klar war, dass ich die Hilfe, die ich benötigte, nicht bekommen würde, habe ich die meisten meiner Symptome selbst in Angriff genommen. Ich entschied mich dafür, mich bewusst auf meine Vergangenheit ein zu lassen und meine unterdrückten Kindheitstraumata in einer Regressions- Selbst- Therapie an zu gehen. Ich schuf [ u. a. durch Schreiben ] den Raum, in dem unterdrückte Erinnerungen auftauchen konnten und ich reiste zwei mal in meinen Heimatort um mich der realen Vergangenheit zu stellen. Ich fühlte den Schmerz und drückte ihn aus und konnte dadurch die festsitzende Traumatisierung verarbeiten. Mittels diesem natürlichen und schrittweisen Verfahren und unterstützt von emphatischen Freunden, die mir keine Etiketten aufdrücken und die mich nicht mit Theorien abfertigen und die auch nicht ihre eigenen Beschränkungen auf mich projizierten, fand eine natürliche Heilung statt. Nach jetzt drei weiteren Jahren kann ich mich als eine seelisch gesundes und starkes menschliches Wesen bezeichnen, und als frei von den Auswirkungen der frühen Traumatisierung.
Nur womit ich mich jetzt noch herumschlage, das sind die Spätfolgen von Wellbutrin und Effexor, darunter ein erheblich verlangsamter Stoffwechsel und ein teilweiser Verlust des Kurzzeitgedächtnisses.
Zum Schluss möchte ich berichten, dass ich inzwischen von sehr vielen anderen Missbrauchsopfern, Besuchern der Homepage Adults Abused as Children [ Erwachsene, die als Kind Missbrauch erfahren hatten ] kontaktiert wurde, die mir nicht allein von den erlittenen frühen Traumatisierung sondern auch von ihren schmachvollen Erfahrungen mit Psychiatern, Psychologen und Therapeuten berichtet haben. In ihrer Hilflosigkeit hatten sie sich an die verschiedensten Organisationen, nicht zuletzt auch an kirchliche Stellen gewandt. Von diesen Opfern haben einige über zehn Jahre Therapie hinter sich – ohne den geringsten Fortschritt. Die meisten von ihnen nehmen Antidepressiva und / oder wurden mittels verschiedener Ansätze hauptsächlich dahingehend „umprogrammiert“, neue Techniken zur Unterdrückung ihrer Traumata zu erlernen. Einige von ihnen wurden religiös indoktriniert und sind nun der festen Überzeugung, dass der blinde Gehorsam gegenüber einem allmächtigen Gott ihr Leben ändern und sie heilen wird.
Aber die Auswirkungen der Kindheitstraumata, die Angstzustände und die Depressionen, werden nicht verschwinden, wenn nicht die Traumatisierung selbst verarbeitet wird. Weitere Störungen und Nebenwirkungen werden das Leben all derer prägen, denen keine Gelegenheit zu heilen geboten wird.
Ich habe aber nur sehr wenige Therapeuten kennen gelernt, die wie ich davon überzeugt sind, dass die verletzte Seele heilen kann, wenn wir es nur zulassen, wenn wir nur diesen Prozess emphatisch, und ohne zu urteilen oder zu etikettieren, menschlich begleiten und wenn wir darauf verzichten, demjenigen, der sich selbst sucht, unsere Theorien über zu stülpen. Leider fehlt den meisten therapeutisch tätigen Professionellen das Rüstzeug für eine derartige Herausforderung. Oft ist es mein Eindruck, dass gerade Therapeuten, aufgrund ihrer eigenen Kindheits- Traumatisierung, zu diesem emphatischen Beistand am wenigsten in der Lage sind. Oft genug führt das dazu, dass sie vielmehr ihre eigenen unbewussten Kindheitsgefühle ausagieren als tatsächlich Wegbegleiter der Heilungsreise des Klienten zu sein.
Meine dringende Bitte an alle Professionellen ist:
Respektieren Sie den Menschen. Unterstützen Sie die Klienten darin, ein Gefühl für ihr inneres Selbst zu bekommen und beantworten Sie deren Fragen – ohne für sich selbst Überlegenheit zu beanspruchen.
Wenden Sie ihre Professionalität mit großer Behutsamkeit an und nur als Mittel zum dem Zweck, Freiheit zu ermöglichen und nicht, um auf der Grundlage vorgefasster Theorien neue Hilflosigkeit und Abhängigkeit zu schaffen.
Lehren Sie dem psychologischen Nachwuchs, neben dem übrigen Lehrplan, auch die wichtigste Lektion von allen: dass jeder Mensch mit einer vollständig intakten rechten Gehirnhälfte auf die Welt kommt und also zeit seines Lebens ein unveräußerliches Recht auf seine Gefühle besitzt.
Vor allem aber rufe ich alle diejenigen, die Psychologie oder Psychiatrie aufgrund persönlicher Erfahrungen als Fach gewählt haben, zuerst das eigene Trauma zu fühlen und zu heilen, bevor Sie mit dem Wissen Ihrer linken Gehirnhälfte Menschen gegenübertreten, die im Schmerz sind. Die Heilung seelischen / emotionalen Schmerzes kann nicht einzig und allein aus der Wissen der linken Gehirnhälfte heraus erfolgen, wir alle wurden auch mit einer perfekt funktionierenden rechten Hemisphäre geboren, als fühlende Wesen. Dieser emotionale Leib ist es, der durch Missbrauch und Trauma beschädigt und zerstört wird.
Sieglinde W. Alexander,
AAaCW Adults Abused as Children Worldwide